COVID-19: ein Leitbild für globale Herausforderungen?

Eine globale Krise, eine Reihe von differenzierten Antworten, die Einschränkung wesentlicher Freiheiten für das Gemeinwohl, die Notwendigkeit einer gemeinsamen kulturellen Anstrengung, um die Gründe für die Ausbreitung des Virus zu verstehen und wie man wirksam gegensteuert: Die Elemente, die den Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus charakterisieren, regen die gesamte Menschheit aktuell zu tiefgründigen Überlegungen über die nahe und ferne Zukunft an. Aber werden daraus auch Leitbilder für die großen ökologischen Herausforderungen entstehen? In welcher Beziehung steht die Verbreitung des Coronavirus zur wissenschaftlichen, philosophischen und anthropologischen Reflexion hinsichtlich der Grenzen unseres Wachstums und der in Zukunft zu verfolgenden Entwicklungsmodelle? Wir haben diese Fragen einigen Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirates der Stiftung Dolomiten UNESCO gestellt.

Annibale Salsa: „Das szientistische Modell steckt in der Krise“

„Die durch das Covid-19 ausgelöste Krise als ein Paradigma zu definieren, das einen epochalen Wendepunkt verkörpert, ist verfrüht“, erklärt Annibale Salsa, Anthropologe, ehemaliger Präsident des CAI und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Stiftung Dolomiten UNESCO. „Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass sie dazu dienen kann, die Exzesse und Grenzen des heutigen Entwicklungsmodells zu überdenken. Die Globalisierung ist die Angeklagte Nummer eins: Viele Lebensstile müssen überprüft werden, ebenso wie die derzeit vorherrschenden Paradigmen. Wir haben dem szientistischen – sprich auf der Wissenschaft beruhenden – und dem technokratischen Modell absolutes Vertrauen geschenkt, aber die Risikoaufklärung war nicht in der Lage, den effektiven Verlauf vorherzusehen. Wohlgemerkt: Ich spreche nicht vom wissenschaftlichen, sondern vielmehr vom szientistischen Modell, das die Wissenschaft zur Ideologie erhebt. Wissenschaftliche Kultur bedeutet Vorhersehbarkeit. Die versäumte Vorhersage des Ausmaßes der Ansteckung wirft uns Jahrhunderte zurück. Die Ausbreitung des Coronavirus und der Klimawandel sind Teil derselben langen Globalisierungswelle, von der die COVID-19-Krise das Ende darstellen könnte. Insbesondere könnte sie beispielsweise das Ende der Kultur der schnellen Reisen bedeuten, die der eigentliche Tod des Inbegriffs der Reise sind. Und hier kommen wir zu den Auswirkungen auf die Berge. Viele Tourismusexperten sind sich einig, dass wir nun gezwungen sein werden, den Tourismus in unserem näheren Umfeld aufzuwerten bzw. neu zu bewerten, und die Orte und Berge in unserer Heimat wiederzuentdecken, die wir allzu lange verschmäht haben. Wir werden uns der Entdeckung eines neuen „Exotizismus in unserer Nähe“ zuwenden, mit einer radikalen Neupositionierung, die es uns aber gleichzeitig ermöglichen kann, weniger bekannte Orte neu zu entdecken. Die zweite Revolution ist kultureller Natur und betrifft den Sinn von „Grenze“, einem für unsere Gesellschaft von heute fast unbekanntem Wort. Bisher war unser erklärtes Ziel, jegliche Grenze zu überschreiten. Nun dagegen muss zwischen subjektiven und objektiven Grenzen unterschieden werden: Das beinhaltet auch, uns Grenzen aufzuerlegen, um dem Klimawandel entgegenzuwirken.“

Cesare Lasen: „Wir sollten etwas daraus gelernt haben!“

„Die Paradigmen müssen überdacht werden. Es gilt, keine Zeit mehr zu verlieren.“ Cesare Lasen, Botaniker, Biologe, Ökologe, ehemaliger Präsident des Nationalparks Belluneser Dolomiten und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Stiftung Dolomiten UNESCO, hat keine Zweifel. Die Paradigmen, auf die er sich bezieht, sind diejenigen, die die gegenwärtige Gesellschaft regulieren. „Man konsumiert heute unaufhaltsam. Das wird durch die Tatsache belegt, dass wir bereits Mitte eines jeden Jahres die Ressourcen unseres Planeten verbraucht haben. Das Ökosystem der Erde, sprich die Biosphäre, muss irgendwie reagieren. Und die Reaktion besteht darin, den Klimawandel zu beschleunigen und eine Pandemie auszubreiten, die Einschränkungen auferlegt, die wir nie erwartet hätten… die aber unverzichtbar sind. Zuallererst für uns selbst: weil es der Mensch ist, der die Natur braucht und nicht umgekehrt.“ Für Lasen ist es wichtig, die globale Reaktion der Systeme unter die Lupe zu nehmen: Das ist seine Aufgabe als Ökologe. Die Analyse zellulärer Mechanismen, die epidemiologischen Statistiken, die Forschungen zur Ermittlung von Impfstoffen und natürlichen Antikörpern sind unabdingbar, „aber es ist vor allem ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich“, betont Lasen. „Wir können die Tatsache, dass der Planet gestresst ist, nicht mehr übersehen, und es muss zumindest der Zweifel entstehen, dass wir die Bruchgrenze vermutlich bereits überschritten haben.“ Unabhängig von den Ursachen oder der mehr oder weniger direkten Mittäterschaft des Menschen, ist es laut Professor Lasen klar, dass es sich hier „um eine letzte Warnung“ handelt. Der Prozess des unbegrenzten und auf dem Verbrauch der verbleibenden Ressourcen begründeten Wachstums muss gestoppt werden. „Unser Planet wehrt sich – und wir sollten seine Hilferufe nicht ungehört verhallen lassen.“ Doch was passiert? „Das genaue Gegenteil: Die Pandemie verstärkt das derzeitige Modell, einschließlich der sozialen Unterschiede und der Bedrohungen des Naturerbes. Spekulationen für die Zeit nach dem COVID-19 sprechen von aufgeweichten Gesetzen und Regeln zugunsten einer raschen Wiederbelebung der Wirtschaft.“ Was bedeuten könnte, dass gerade die Schutzgebiete neuen Gefahren ausgesetzt sind.

Roland Dellagiacoma: „Weniger ist mehr“

Durchaus kein Widerspruch ist dieser Vorschlag von Roland Dellagiacoma, Forstwirt und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Stiftung Dolomiten UNESCO. Entschleunigung bedeutet in diesem Sinne, nicht mehr die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. „Das 21. Jahrhundert muss im Zeichen der Ökologie, und nicht der Ökonomie stehen“, betont Dellagiacoma, und beruft sich auf die von Hans Glauber organisierten Toblacher Gespräche und die famose Umkehr des Denkspruches citius, altius, fortius in lentius, profundius, suavius, gemäß einem Vorschlag von Alexander Langer im Jahr 1994. Hat sich die Fragilität des auf unbegrenztem Wachstum beruhenden Wirtschaftsmodells in dieser Krise deutlich offenbart? „Wir haben verstanden, dass bestimmte Grenzen akzeptiert und respektiert werden müssen“, erklärt Dellagiacoma. „Wir müssen unseren Lebensstil überdenken: Die rücksichtslose Globalisierung birgt erhebliche Risiken. In den vergangenen Monaten der totalen Isolation ist mir die Sinnlosigkeit vieler Fahrten und Reisen direkt bewusst geworden, die vorher normal erscheinen konnten.“ Diese Überlegung sollte sich auch der Tourismussektor zu eigen machen, dessen Modell sich ändern muss: „Wir haben in den letzten Jahren eine beeindruckende Zunahme der Ankünfte, bei einer gleichzeitigen Verkürzung der Übernachtungsdauer, festgestellt. Wir sollten nach dieser Krise nicht wieder zu diesem Ansatz zurückkehren.“

Ph. Lorenzo Barbante