Wenn das Bewusstsein des Ortes, an dem man das Licht der Welt erblickt hat, eine Quelle der Inspiration ist, um Brücken zu anderen Welten zu schlagen: Tatiana Pais Becher, Schöpferin der Umarmung der Drei Zinnen, erzählt über ihre Beziehung zu den Dolomiten, heute Sinnbild des Friedens, der Freiheit und Gerechtigkeit für alle Völker der Welt.
Ich wurde im Cadore, im Land der Drei Zinnen geboren; das empfinde ich nicht nur als Privileg, sondern auch als Chance, deren sich viele Menschen, die hier leben, leider nicht bewusst sind. Glücklicherweise legten mir meine Eltern die Liebe zu den Bergen in die Wiege und lehrten mich, Respekt und Wertschätzung für die einzigartige Umgebung zu empfinden, in der wir leben.
Schon als ich noch den Kindergarten besuchte, nahm mein Vater, der als Bergführer arbeitete, meinen Bruder und mich auf die herrlichen Berggipfel rund um den Misurinasee mit; so sah ich schon früh die Drei Zinnen von Lavaredo, den Paternkofel, die Cadini-Gruppe, den Monte Popena und den Monte Cristallo. Dort oben, wo sich Himmel und Erde berühren, verstand ich es, meinen Blick auf ferne Horizonte schweifen zu lassen, und realisierte, dass Berge nicht einfach nur Täler voneinander trennen, sondern Orte sind, die zum Träumen anregen, von denen aus man Brücken zu anderen Welten schlagen kann, die dazu inspirieren, Mauern und Grenzen einzureißen. Dieses Bewusstsein hat mich seitdem überall hin begleitet, sei es während meiner Studienzeit in Irland und auf meinen Auslandsreisen, sei es bei meiner Rückkehr zu den Wurzeln meiner Existenz und zu meinen Bergen, seit jeher mein liebstes Observatorium, um einen Blick auf die Welt zu werfen.
Der Beginn des neuen Jahrtausends war ein wichtiger Wendepunkt in meinem Leben, da ich zum ersten Mal Mutter wurde und starke Emotionen durchlebte, jedoch auch zur Erkenntnis kam, dass wir in einer Welt leben, in der Ungerechtigkeiten, Ungleichheit, Menschenrechtsverletzungen und der Missbrauch der Schwächeren an der Tagesordnung sind. Deshalb habe ich mit großem Interesse die Kampagnen „Erlassjahr 2000“, die von Papst Johannes Paul II ins Leben gerufen wurde, und „Drop The Debt Campaign“ verfolgt, die auch von Bono Vox unterstützt wurde. Bono war der Rockstar, der mich in meiner Jugend am meisten geprägt hat; zudem hatte ich das große Privileg, ihn während der Niederschrift meiner Diplomarbeit über die Beziehungen zwischen der irischen Literatur und den Liedertexten der U2 persönlich kennen zu lernen.
Das brachte mich dazu, mir die Frage zu stellen, wie eine Frau aus einem kleinen Dorf in den Dolomiten und Mutter von drei kleinen Kindern dazu beitragen könnte, die Welt etwas besser zu machen und bestimmte Probleme in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Im Laufe einer schlaflosen Nacht entstand so die Idee, meine Liebe für die Dolomiten mit dem Traum, diese Welt zu verändern, zu vereinbaren, und eine Menschenkette mit 6000 Teilnehmern zu organisieren, um die Drei Zinnen von Lavaredo in eine symbolische Umarmung zu schließen. Die Drei Zinnen wären etwas später von einem umkämpften Grenzland, in dem sich vor 100 Jahren tausende Soldaten während des Ersten Weltkrieges gegenseitig abschlachteten, zum Symbol par excellence des Dolomiten UNESCO Welterbes geworden; ich träumte davon, dass die Drei Zinnen von Lavaredo zu einem Symbol für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit für alle Völker der Welt werden.
Seit Jahren spielte ich mit dieser Idee und diskutierte mit vielen Leuten darüber, die mich als verrückt oder visionär abstempelten, bis ich meine Freunde Daniele, Francesco und Piergiorgio von der NGO „Insieme si può“ kennenlernte, die gemeinsam mit mir diesen Traum verwirklichten. So entstand eine Arbeitsgruppe mit mehr als 200 Freiwilligen und einer perfekten Organisation.
Die erste Menschenkette „Die Dolomiten umarmen Afrika“ wurde 2009 ein paar Tage vor dem G8-Gipfel in L’Aquila organisiert, die zweite Menschenkette „Die Dolomiten umarmen die Menschenrechte“ im Jahr 2015 anlässlich des 40. Jahrestages der italienischen Sektion von Amnesty International. Die zweite Auflage der Veranstaltung fand durch die Unterstützung der internationalen Organisation Art for Amnesty und ihres Präsidenten Bill Shipsey weltweit breiten Widerhall in den Medien, da so viele internationale Musiker wie Patti Smith, Michael Stipe, Sting, Joan Baez und die U2 selber für das Projekt gewonnen werden konnten; die U2 haben auf ihrer offiziellen Website U2.com das Foto der Drei Zinnen und eine Einladung an ihre Fans, an der Umarmung teilzunehmen, veröffentlicht. Eine symbolische Geste zwar, die aber in wenigen Stunden von den Dolomiten aus die ganze Welt erreicht hat; so wurde das Video, das Giovanni Carraro mit einer Drohne gedreht und in kurzer Zeit zusammengeschnitten hat, innerhalb von wenigen Tagen über 500.000mal angeklickt. Es gehört zu den 10 am häufigsten betrachteten Videos weltweit, die von den verschiedenen Sektionen von Amnesty bisher gedreht wurden www.dolomitidirittiumani.org.
Die Dolomiten der Zukunft sollten mehr und mehr ein Ort des künstlerischen, sozialen, umweltschützerischen und kulturellen Dialogs werden. Internet und die sozialen Medien haben maßgeblich dazu beigetragen, alle Formen körperlicher und geistiger Lücken zu schließen, längs der einstigen Grenzen auf den Gipfeln unserer Berge schütteln sich nun immer mehr Touristen aus aller Herren Länder die Hände, lächeln sich gegenseitig an und genießen gemeinsam den Anblick dieser unvergleichlichen Gipfel, Felsnadeln und Gesteinstürme.
Nachdem die UNESCO die Dolomiten in die Liste des Welterbes aufgenommen hat, wird es die Aufgabe meiner Generation sein, sich der Einzigartigkeit dieser Bergregion stärker bewusst zu werden und sie unversehrt an die nächsten Generationen weiter zu reichen, damit diese ebenfalls über die zeitlose Schönheit dieser Berge wachen.
Dieses Ziel wird jedoch nur verwirklicht werden können, wenn weiterhin eine globale und offene Vision aufrecht erhalten wird, wenn man neue Projekte verwirklicht, die das Augenmerk der Welt auf unsere Berge richten, internationale Künstler einbeziehen und so wichtige Gelegenheiten für eine gemeinsame Reflexion und Aufwertung des Dolomiten UNESCO Welterbes schaffen. Kunst und Kultur könnten die besten Mittel sein, um eine größtmögliche Anzahl von Menschen diesem Gut nahezubringen, das uns allen, aber vor allem den Generationen nach uns gehört.
Tatiana Pais Becher